Dieses Unterrichtsmodell bietet eine kritische Auseinandersetzung mit dem stets bedeutsamen Thema Extremismus und Gewalt, welches die Lebenswirklichkeit von Schüler*innen berührt. Der Deutschunterricht ist dabei „an der Konturierung des kulturellen Gedächtnisses zentral beteiligt“ (Wrobel & von Brand, 2012, S. 4).
Mithilfe des digitalen Spiels wird die Thematik erfahrbar und reflektierbar gemacht. Dies erfolgt anhand verschiedener Symboliken und Objekte, welche im Jugendzimmer verstreut sind. Die Lernenden müssen diese erkennen und verstehen können. Durch das Selberspielen beweisen sie in der Rolle des Jonas detektivische Fähigkeiten, denn Spuren für das Verschwinden des Bruders müssen entdeckt werden und Kohärenzen unter den Objekten erkannt und verknüpft werden. Somit fördern die Unterrichtsvorschläge die „mediale Bildung, die wie die literarische Bildung vor allem auf einer Förderung von Verstehenskompetenz beruht“ (Leubner, Saupe, & Richter, 2012, S. 200). Vorrangig geht es um das intuitive Verstehen von Symbolen, aber auch das konkrete Benennen dieser literarischen Symbole mithilfe von Textstellen des digitalen Spiels, welche durch die analytische (Bild-) Lesetechniken und -strategien, bzw. Filmlesefähigkeit erarbeitet werden.
Es entsteht eine Perspektivübernahme: Ein Figurenverstehen erfolgt durch das Hineinversetzen in die Rolle des Jonas‘ und die Handlungen innerhalb des Freundeskreises um Leon können reflektiert werden. Anhand der Textauszüge aus den Gesprächen wird die Lesegeschwindigkeit und die Lesekompetenz gefördert und die Situation nahbarer gemacht. Besonders das Verständnis von Symbolen soll damit erlernt und erklärt werden. Folgende Fragen gilt es zu klären:
- Welche Spuren gibt es zu finden?
- Wie müssen diese gelesen werden?
- Was wird über die Figuren in Erfahrung gebracht?
- Warum handeln die Protagonisten, wie sie handeln?
- Welche Symbole sind in dem Zimmer zu finden?
- Wie können die Symbole verstanden werden?
Einleitung
Das digitale Spiel Leons Identität wurde 2020 im Auftrag der Staatskanzlei und des Ministeriums des Inneren des Landes Nordrhein-Westfalen vom Studio btf Game Department als Extremismus-Prävention entwickelt und ist auch für den Schuleinsatz geeignet. Das Point-and-Click-Adventure [1] ist kostenlos für den Windows PC, Mac OS und Linux verfügbar. Eine Browserversion soll folgen. Das Spiel wird ab 12 Jahren empfohlen.
Das detektivische Abenteuerspiel wird aus der Egoperspektive, also Ich-Perspektive gesteuert, und ist grafisch sehr ansprechend gestaltet. Dabei ist es sehr minimalistisch und auf das Wesentliche konzentriert: Es gibt keine verwirrende Steuerung oder große Spielwelt, aber auch keine Einführung, alles muss selbst erkundet und entdeckt werden.
Die Spieler*innen schlüpfen in die Rolle von Jonas, Leons kleinem Bruder. Die eigene Spielfigur ist dabei nicht sichtbar; die Darstellung der Spielwelt erfolgt aus den Augen der Figur. Dies lässt die Detektivarbeit und die Geschichte glaubwürdiger und emotionaler wirken. Leons Jugendzimmer muss nach Hinweisen und den Umständen seines Verschwindens hin untersucht werden, denn es wird im Verlauf des Spiels deutlich, dass Leon nicht einfach nur verschwunden ist, sondern einer offensichtlich rechtsextremistischen Vereinigung beitreten möchte.
Dabei müssen die Spieler*innen die gefundenen Informationen miteinander kombinieren, was nicht immer einfach ist. Ein Durchspielen in einer Unterrichtsstunde wird unmöglich, vor allem wenn alle Informationen und Einblendungen in Ruhe gelesen werden sollen.
[1] Point-and-Click – auf etwas zeigen und anklicken – wird ein Bedienkonzept von digitalen Spielen bezeichnet, bei denen die Nutzer*in mit Hilfe eines dargestellten Mauszeigers auf bestimmte Objekte steuern und klicken kann. Durch das Drucken wird eine vordefinierte Aktion ausgelöst, so kommentiert Jonas regelmäßig die unterschiedlichsten Objekte im Zimmer seines Bruders und gibt den Spieler*innen somit Hinweise.
Eine Rahmenerzählung oder Erklärung der Spielweise finden nicht statt. Die Lehrkraft hat daher die Möglichkeit eine Einführung mithilfe des Zusatzmaterials vor dem Spielstart zu geben (Material 1).[1] Mögliche Fragen an die Schüler*innen können sein:
- Worum könnte es im Spiel gehen?
- Worauf könnte es hinauslaufen?
- Was lassen die Figuren für die Handlung erwarten?
- In welchen Verhältnissen können sie wohl zueinanderstehen?
- Was ist die Aufgabe als Spieler*in?
Bevor das eigentliche Spielen beginnt, sollten die Erwartungen der Lernenden zum Spiel abgefragt werden – in Anlehnung an der Beschäftigung mit Ganzschriften – indem sie sich zum Spieltitel, aber auch zur Kurzeinführung oder auch zum Trailer äußern.
Gruppenarbeit, Plenum
[1] Im Material 1 befindet sich eine Kurzeinführung in das Spiel, Steckbriefe der Protagonist*innen, das Logo des Spiels und ein Link zu einem Videotrailer des Spiels.
Das Aktivwerden der Schüler*innen stellt auch gleichzeitig die Phase der Erstrezeption dar: Durch das selbstständige Spielen soll ein vertiefendes Erlebnis in Form von Hören und Sehen erlangt werden. Dabei ist es unabdingbar, dass immer wieder Zeit zum Notieren von schriftlichen Notizen gelassen wird. Mögliche initiierte Wirkungsgespräche an geeigneten Meilensteinen im Spiel ermöglicht einen Austausch zu zentralen Aussagen im Spiel, Nennung von Sympathien und Antipathien von Figuren oder generellen Eindrücken der Szenerie z.B. in Form von Mindmaps, Ideenpools, aber auch Rollenspiele.
Mögliche Meilensteine im Spiel:
- Ersteindruck des Jugendzimmers
- Videorückblick vom Zelten in Holland
- Videorückblick zu Gedanken an Lina, Urlaub mit der Familie
- Nach dem ersten Rundgang durch das Zimmer
- Verschlossene Tür in der Abseite
- Zugang zum Computer durch das gefundene Passwort ermöglicht
- Das Telefonat mit Leon
Nach dem Spielen sollten die Schüler*innen die Möglichkeit haben, die Eindrücke weitgehend ungefiltert und befreit zu äußern, um sie vom Erwartungsdruck zu befreien, richtige Antworten geben zu müssen. Zudem bietet der offene Einstieg die Möglichkeit, unterschiedliche Vorgehensweisen im Spielen zu erkennen und daraus Untersuchungsinteressen abzuleiten.
Gruppenarbeit, Plenum (Reflexion)
Einzelarbeit, Partnerarbeit (Spielen)
Das Erkunden als Detektiv*in kann in Einzelarbeit – was länger dauert – oder in Partnerarbeit erfolgen und macht den eigentlichen Reiz des Spieles aus. Kleine Hilfen werden zwar automatisch im Spiel eingeblendet, bzw. Jonas nennt diese, es können aber auch Hilfekarten im Unterricht auf einem Tisch ausgelegt werden (Material 2).
Nach dem Starten des Spiels, über den Menüpunkt Spiel starten, beginnt ein kurzes Video. Dabei fährt die Kamera eine Treppe im Haus der Protagonisten an gemalten Kinderbildern hoch Richtung Leons Zimmer. Im Hintergrund sind Stimmen von Polizisten und Leons und Jonas‘ Eltern zu hören, die Sprache wird auch immer gleichzeitig eingeblendet.
Der*die Spieler*in startet direkt vor Leons Zimmer. Sobald der Mauszeiger – der im Spiel als Punkt dargestellt ist – über ein sehenswertes Objekt gesteuert wird, werden Informationen zum Objekt eingeblendet und Hilfen gegeben, wie interagiert werden muss (z.B. mit der linken Maustaste). Zunächst muss die Zimmertür geöffnet werden.
Die Steuerung der eigenen Figur innerhalb Leons Zimmer erfolgt mithilfe der Tastatur. [1] Eine weitere Einführung erfolgt nicht. Nachdem das Zimmer betreten wurde, können in Ruhe einige Objekte angeklickt werden, die durch den Mauszeiger sichtbar werden. Dabei ist es zunächst unerheblich, in welcher Reihenfolge dies erfolgt. Jonas gibt dazu aber immer wieder Tipps, wie im unteren Bild zu sehen ist.
Schnell wird deutlich, dass gewisse Objekte miteinander kombiniert werden müssen, um Leon zu finden (siehe Material 3). Folgende Objekte und Indizien geben Aufschluss über Leons Verschwinden und müssen für eine Lösung miteinander verknüpft werden:
- Kalendereintrag an der Pinnwand zeigt den 18. rot umkreist
- Computer ist gesperrt, das Passwort dazu muss herausgefunden werden, ist im Zimmer versteckt
- Überall sind blaue Reste vom Drucken verstreut, der 3D-Drucker muss gangbar gemacht werden
- In der Abseite ist eine Tür mit einem blauen Kunststoffschloss verschlossen
Wurden alle Objekte kombiniert (siehe Material), findet Jonas Leons altes Smartphone. Über das gesperrte Programm erfolgt dadurch ein Zugang zu einem Online-Forum der Altravistischen Aktion, sodass Leons neue Handynummer entdeckt wird.
[1] Die Taste W steuert die Figur geradeaus, S zurück, A nach links und D nach rechts. Die Steuerung ist geübten PC-Spieler*innen bereits geläufig.
Einzelarbeit, Partnerarbeit
Mit der gefundenen Handynummer kann der verschwundene Bruder angerufen werden. In dem anschließenden Telefonat muss man diesen davon überzeugen auszusteigen und nach Hause zurückzukommen (siehe Material). Das Gespräch zwischen Jonas und Leon ist komplex und langatmig, fordert und fördert jedoch die Lesegeschwindigkeit und Lesekompetenz. Durch den Aufbau als digitales Spiel empfinden die Schüler*innen das Lesen jedoch nicht als störend.
Zu Beginn des Gesprächs kann aus drei Themenbereiche gewählt werden: Leons Musik, Alte Freunde und Neue Bekanntschaften.
Zwei beliebige Bereiche müssen nacheinander ‚bestanden‘ werden, um den Bruder in einem abschließenden vierten Bereich endgültig überzeugen zu können. Bei der Auswahl der vorgegebenen Antworten muss jedoch genau überlegt werden: Wählt man mehrfach eine falsche Antwort, legt Leon genervt auf und das Spiel endet zunächst. Eine Wiederholung des Telefonats ist jedoch jederzeit möglich (im Material befindet sich die Lösung).
Einzelarbeit, Partnerarbeit
Im Anschluss erfolgt die Rekapitulation innerhalb der Makrostruktur: Der Handlungsverlauf, die Erzählstruktur und die Figurenkonstellationen:
Die Sprache und das Alter der Protagonist*innen/ Figuren sprechen die Schüler*innen an und lassen eine Identifizierung mit ihnen schnell zu. Durch die Rollenübernahme des Bruders geschieht die Identifizierung mit den Figuren nochmals schneller. Die Schüler*innen sollen nach dem Durchspielen des Spiels die Intentionen der Figuren verstehen und nachvollziehen können.
Zunächst soll eine Figurenkonstellation erstellt werden, z.B. in Form einer Mindmap oder im Fließtext. Grundsätzlich behandelt das Spiel die Thematik Rechtsextremismus, aber ausschlaggebend zur Veränderung Leons ist jedoch der Streit innerhalb des Freundeskreises: Leon hat sich in seine Schulfreundin Lina verliebt, die wählt jedoch Elyas, welcher Leons bester Schulfreund ist. Jonas kann sich gar nicht vorstellen, dass Leon wegen des Liebeskummers abgehauen ist. Es steckt nämlich mehr dahinter, wie der Auszug aus dem Telefonat zeigt:
Jonas: Es gibt auch noch andere coole Mädchen als Lina! Paula aus meiner Klasse zum Beispiel
hat neulich gesagt, dass sie dich süß findet!“
Leon: „Was soll das jetzt? Ich brauch keine Freundin. Ich hab jetzt Wichtigeres zu tun.“
Leon hatte zwar Liebeskummer, fühlt sich aber von seinen Freunden im Stich gelassen und ist der Meinung, dass alle gegen ihn sind. Deshalb soll die Freundschaft innerhalb Freundeskreises näher thematisiert werden, indem an Auszügen des Telefonates und Briefen (Material 6) gelesen und gearbeitet wird.
Im direkten Anschluss daran steht eine szenische Darstellung im Mittelpunkt: Die Schüler*innen übernehmen die Rollen des Freundeskreises und können folgende Szenen erarbeiten und vorspielen:
- Ein Gespräch zwischen Leon und Lina über die Gefühle zu ihr und die daraus resultierende Konsequenz für die Freunde, Band und die gemeinsame Freundschaft.
- Ein direktes Gespräch zwischen Leon und seinem Bruder, ohne dass ein Telefonat stattgefunden hat.
- Ein Gespräch zwischen Leon und Elyas über die Gefühle zu Lina und die daraus resultierende Konsequenz für die Freundschaft und die Beziehungen zu den anderen Freunden.
- Der gemeinsame Versuch der Freunde, Leon umzustimmen und ihn von der Freundschaft zu überzeugen.
- …
Gruppenarbeit, Plenum
Eine Analyse von bedeutenden Details erfolgt innerhalb der Mikroebene:
Die Schüler*innen haben während des Spiels bewusste und unbewusste Symbole erkennen können. Jonas konfrontiert seinen Bruder im Telefonat mit den gemachten Entdeckungen in dessen Zimmer und fragt ihn, ob das nicht ein „krasses rechtes Symbol“ sei. Jonas möchte mit der Flagge ein Zeichen setzen, also etwas Bedeutsames in einer ungewöhnlichen Weise kommunizieren, so dass es von den Menschen wahrgenommen wird. Im konkreten Fall möchte er sich mit der neuen Gruppierung – der Atavistischen Aktion – identifizieren und gemeinsam das Land verändern.
Im Anhang wird das Gespräch dazu kurz dargestellt (Material 3). Die Schüler*innen sollen verstehen, was mit Symbolen allgemein gemeint ist und wofür diese genutzt werden. Zudem soll erarbeitet und erläutert werden, welche Kennzeichen und Symbole der rechtsextremen Szene die Lernenden kennen und was sie bedeuten könnten.
Allgemein sind Symbole Bedeutungsträger oder Erkennungszeichen, z.B. Wörter oder Gegenstände, welche „den offenen Sinn des Dargestellten oder eine Aussage“ (Becker, 1992, S. 5) verhüllen. Dabei werden sie genutzt, um sich auf einen anderen Gegenstand zu beziehen oder in Bezug auf einen höheren Bereich stehen: Das Herz als Symbol der Liebe oder das Kreuz als Symbol des Christentums. Wird ein Gegenstand zum Symbol und erscheint in einem literarischen Text wiederholt an bedeutsamen Stellen, wird von einem Dingsymbol gesprochen
Politische Symbole drücken bildhaft eine bestimmte Weltanschauung aus, doch dienen sie auch als Erkennungszeichen für Gleichgesinnte und als Abgrenzung. Das Hakenkreuz als strafbares Symbol ist schnell der rechten Szene zuzuordnen, für Außenstehende sind andere Symbole und Codes jedoch schwer zu erkennen und zuzuordnen.
Gruppenarbeit, Plenum
Ein Transfer der Ereignisse soll klären, ob die Geschichte rund um Leon fiktiv, also erfunden ist. Die Lernenden erhalten eine Übersicht darüber, welche Objekte den Rechtsextremismus teilweise versteckt thematisieren (Material 7). Die Gegenüberstellung zeigt, dass reale Themen für das Spiel literarisiert wurden. Somit erkennen die Lernenden, was die Literatur von der Realität unterscheidet, jedoch ist in diesem Fall das Spiel sehr nah an der Wirklichkeit geblieben, um die Problematik deutlich aufzeigen zu können. Sowohl in der Literatur, in Zeitschriften, der Musik und Sprache und natürlich den Sozialen Medien sind rechtsextremistische Strömungen zu finden, oftmals unbemerkt und sehr geschickt verschleiert. Dieses Material, und die Erfahrungen durch das Spiel, bietet die Grundlage für ein abschließendes Unterrichtsgespräch, in welchem die Lernenden die Erfahrungen des Spiels reflektieren.
Gruppenarbeit, Plenum
Zum Ende ist es hilfreich, dass die Schüler*innen die Erkenntnisse des Spiels reflektieren und bewerten. Dabei werden die Lernergebnisse gesichtet, die eigenen Lernfortschritte und gewonnen Erkenntnisse bewusst gemacht.
Literatur
Becker, U. (1992). Lexikon der Symbole. Köln: Komet.
Kammler, C., & Noack, B. (Juli 2011). Symbolverstehen im Literaturunterricht. Praxis Deutsch 228. Symbole verstehen, S. 4-11.
Leubner, M., Saupe, A., & Richter, M. (2012). Literaturdidaktik. Berlin: Akademie Verlag.
Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen. (2020). Leons Identität. Von https://leon.nrw.de/impressum.html abgerufen
Wellek, R., & Warren, A. (1972). Theorie der Literatur. Frankfurt a. M.: Fischer.
Westerhoff, E. J. (2021). Leons Identität – Ein exploratives Abenteuer. Praxis Deutsch Nr. 289. Spielend lernen im Deutschunterricht, S.36-39.
Wrobel, D., & von Brand, T. (2012). Nationalsozialismus. Praxis Deutsch 236. Nationalsozialismus, S. 4-11.